Influencerin im völkischen Look – oder wie aus Mädchen, Marken der Heimatjugend werden

Amelia Lydia Steinicke am 14.11.2025 beim Offenen Abend  in Essen Quelle: Recherche Nord

So oder ähnlich ließe sich die Laufbahn der 17-jährigen Amelia Lydia Steinicke zusammenfassen. Vor wenigen Monaten noch ein unbeschriebenes Blatt, heute bekanntes Gesicht der neonazistischen Heimatjugend/JN im Ruhrgebiet. Ihr Umfeld: einschlägig bekannte rechte Kader. Ihr Terrain: Heimatabende in Essen-Kray und Dortmund-Dorstfeld sowie Social-Media-Profile im Stil rechter Nachwuchs-Influencerinnen. Der Fall Steinicke zeigt: Die extreme Rechte hat verstanden, dass sie im Jahr 2025 nicht nur Trommeln und Transparente braucht, sondern Gesichter: weiblich, jung. Solche, die ins Netz passen.

„Weiblich, jung, rechts“ – die neue Schaufensterfront
In den letzten Jahren hat sich im Umfeld der extremen Rechten eine neue Figur etabliert: die rechte Influencerin. 
In Medienberichten wird etwa die unter dem Alias „Anio“ auftretende Lilly Baginski als Shooting-Star der „Jungen Nationalisten“, der Jugendorganisation der Partei „Die Heimat“, beschrieben. Präsent bei Anti-CSD-Aufmärschen und  in Social-Media-Clips, als scheinbar moderne Verpackung alten Hasses.
Das Muster ist immer ähnlich: Statt Glatze und Springerstiefeln treten junge Frauen in sauber kuratierten Feeds auf, inszenieren sich als Kämpferinnen für „deutsche Werte“, während sie queerfeindliche und rassistische Botschaften verbreiten. Die Zielgruppe: Teenager und junge Erwachsene, die nicht auf graue Männer in Bomberjacken anspringen, aber auf stylische Selfies mit politischer Würze.

In dieses Raster passt auch Amelia Lydia Steinicke nahezu lehrbuchhaft. Sie ist die regionale Variante dieses Typus im Ruhrgebiet: 17 Jahre alt, Social-Media-affin, anschlussfähig für eine Generation, die ihre politische Welt primär durch Feeds, Stories und Clips wahrnimmt. In den Strukturen der Heimatjugend wird sie entsprechend eingesetzt: als freundliches Gesicht einer Szene, die sich selbst gern als „Jugendbewegung“ verkauft und dafür dringend Abstand zum klassischen Neonazi-Klischee braucht. Frauen sind Schaufensterfiguren und Legitimationsvehikel für die extreme Rechte: Wenn „selbst Mädchen“ sich nicht abschrecken lassen, kann das alles ja nicht so extrem sein. In geschlossenen Runden bleibt das Rollenbild gleichzeitig traditionell: Frauen als Ergänzung, nicht als Führung; als emotionale Verstärkerinnen, nicht als strategische Köpfe. Steinicke bewegt sich genau in diesem Rahmen. Sie darf im Bild vorne stehen, aber inhaltlich nur dosiert auftreten. Sie ist politisches Aushängeschild und Rekrutierungsfaktor und damit wichtiger Bestandteil einer modernisierten Inszenierung, die die Kontinuität der Ideologie hinter neuen Filtern verbirgt.

Einstieg in die Szene

Elias Bialas und Amelia Steinicke am 29.08.2025 beim Offenen Abend in Dortmund-Dorstfeld Quelle: Recherche Nord

Ihre ersten Schritte in die Szene ging Steinicke gemeinsam mit Elias Bialas, einem bereits bekannten Aktivisten im rechten Ruhrgebiets-Milieu. Bialas übernimmt, was in extrem rechten Strukturen seit Jahren praktiziert wird: persönliche Ansprache als Anschluss an digitale Radikalisierung. Aus Nachrichten über Social Media werden konkrete Verabredungen. „Komm nicht allein, wir treffen uns vorher“, lautet das unausgesprochene Versprechen von Schutz und Zugehörigkeit.

So holt Bialas sie am Bahnhof ab, bringt sie zum offenen Abend der „Heimat“. Der Weg zum Veranstaltungsort ist mehr als ein Fußweg, er ist die Verschiebung der Grenze zwischen „Zuschauen“ und „Mitmachen“. Drinnen: ein Dutzend bekannte Gesichter, einige Ältere, viele junge Männer, dazwischen wenige junge Frauen. 

Elias Bialas und Amelia Steinicke am 12.09.2025 beim Offenen Abend  in Essen Quelle: Recherche Nord

Innerhalb weniger Monate wird aus Amelia Steinicke eine verlässliche Teilnehmerin. Sie taucht regelmäßig bei den Heimatabenden in Essen-Kray und Dortmund-Dorstfeld auf, zuerst im Hintergrund, später sichtbar platziert. Spätestens als sie bei Aufmärschen der Heimatjugend in der ersten Reihe mit Banner läuft, ist klar: Steinicke ist nicht mehr nur Mitläuferin, sie ist Teil des präsentierten Kerns. Es ist ihr bewusster Entschluss, sich öffentlich für eine Gruppe herzugeben, die den Nationalsozialismus feiert. In einer Szene, die lange Zeit Nachwuchs- und Imageprobleme zugleich hatte, ist eine 17-jährige Aktivistin Gold wert und wird entsprechend umworben, eingebunden, ausgestellt.

Forum Germanum
Eine weitere Stufe der Selbstinszenierung ist das Online-Projekt „Forum Germanum“, das Steinicke gemeinsam mit Raik Helm gründete. Schon der Name zielt auf neurechte Referenz: römisch angehauchter Pathos, latinisierter Ernst, die Suggestion von Tiefe. Der visuelle Stil lehnt sich an neurechte Verlage und Medienprojekte an: Minimalistisches Layout, gedeckte Farben, Anleihen an pseudointellektuelle Publikationen, wie sie im Umfeld der extremen Rechten gern als „Meta-Ebene“ genutzt werden.
Inhaltlich ist das Projekt bislang überschaubar, aber aufschlussreich. Der erste Artikel stammt von Steinicke selbst und trägt den Titel:
„Grusel garantiert, Gelatine inklusive Süßes oder Saures? Haram!“
Der Text wirkt wie ein Experiment zwischen Angetrunkenheit und Überforderung: eine Mischung aus Halloween-Kritik, Süßigkeiten-Exkursen und islambezogenen Seitenhieben, ohne klare Linie, ohne nachvollziehbare Argumentation. Politisch ist das nur in Andeutungen erkennbar, der Rest wirkt maximal widersprüchlich und vor allem unfreiwillig komisch. Was bleibt, ist ein Text, der eher wie eine missglückte Mischung aus Tagebucheintrag und Stammtischwitz daherkommt und nicht wie eine ideologisch fundierte Stellungnahme.
Der zweite Artikel auf „Forum Germanum“ stammt von Raik Helm und fällt erwartungsgemäß analytischer aus, zumindest nach innen. Unter dem Stichwort des „linksgeprägten Bildes“ der Uni Bochum arbeitet er sich an seinem Lieblingsthema ab. Konkrete Beispiele bleiben vage, aber für die interne Erzählung reicht es: Die „eigene Jugend“ wird als Gegenentwurf zur angeblich „gleichgeschalteten“ Unikultur inszeniert. Weil die Studierenden keinen Bock auf Neonazis haben und dies auch öffentlich kundtun, verkriecht sich der zum Scheitern verurteilte Lehramtsstudent in die Opferrolle und Flucht gegen den bunten und weltoffenen Campus. 

Der bisher letzte Beitrag des Projekts ist ein Kurzvideo über den offenen Abend in Essen am 14.11.2025. Zu sehen: Steinicke, sichtbar nervös, vor einer wackeligen Kamera. Sie erklärt, dass die Heimatjugend „trotz Gegenprotest“ wieder „Widerstand gezeigt“ habe. Der Auftritt ist unsicher, die Sätze brechen, der Blick wandert, die Körpersprache schwankt zwischen Stolz und Überforderung. Professionell ist das nicht aber darauf kommt es in erster Linie auch nicht an. Wichtig ist: Es gibt einen Clip mit jungem Gesicht, einem halbwegs klaren Satz und einem Link, der sich teilen lässt.

Amelia, Raik und die Kaderpädagogik
Auffällig ist die Nähe zwischen Steinicke und Raik Helm sowohl inhaltlich als auch optisch. Auf Fotos und Videos tritt Helm häufig in direkter räumlicher Nähe zu ihr auf: er als erklärender Organisator, sie als junge Aktivistin an seiner Seite.

Beobachtet wurde das Duo auch abseits der offiziellen Settings: in Bochum, händchenhaltend beim Starbucks und vorbeihuschend an Antifa-Graffitis. Ob es sich tatsächlich um eine B

Raik Helm und Amelia Steinicke

eziehung handelt oder doch nur um die übliche, kurzlebige Szene-Affäre, bleibt offen.

Raik Helm und Amelia Steinicke

Die Konstellation erfüllt gleich mehrere Zwecke:
Steinicke erhält symbolisch Rückendeckung eines etablierten männlichen Kaders und wirkt dadurch in der Szene aufgewertet, aber gleichzeitig eingebunden. Helm wiederum kann sich als jemand präsentieren, der „die Jugend an die Hand nimmt“, sie „formt“, „begleitet“, ein klassischer Kaderbildungsansatz mit pädagogischer Tarnkappe – und jetzt sogar mit Freundin. Nach außen entsteht das Bild einer modernen, „normalen“ Jugendclique, in der Politik, Beziehung und Alltag verschwimmen.

Für andere Jugendliche ist das attraktiv. Die Botschaft lautet: Wer in die Heimatjugend kommt, erhält nicht nur politische Heimat, sondern auch soziale Anbindung, Freundschaften, vielleicht eine Beziehung. Der ideologische Kern tritt im Alltag hinter der Normalität zurück, um dann bei Demos, Aktionen und Texten wieder klar hervorzutreten.

Zwischen Klassenzimmer und Heimatabend: Amelia an der Erich-Kästner-Schule

Amelia Steinicke bei ihrem Abschluss der 10.2 Klasse im Sommer 2024

Auffällig ist Steinicke nicht nur in der Szene, sondern auch im Alltag. Sie besucht die Erich-Kästner-Schule in Bochum und geht dort in die 11. Klasse. Mitschüler:innen berichten von „merkwürdigen“ Aussagen im Unterricht: Relativierungen von rechter Gewalt, Nebensätzen über „mutige Patrioten“, spitzen Bemerkungen zu queeren Themen oder Geflüchteten, die sie mit einem Schulterzucken als „nur eine Meinung“ abtut. Lehrkräfte bekommen davon meist nur Ausschnitte mit, wissen aber mittlerweile um ihre Einbindung in die Neonaziszene. So schiebt sich ihr Schulalltag nahtlos neben Heimatabende und „Forum Germanum“: vormittags Klausuren, nachmittags Banner, dazwischen ein Weltbild, das längst nicht mehr nur online oder in Dorstfeld verhandelt wird, sondern mitten im Klassenzimmer.

Amelia Lydia Steinicke steht exemplarisch für eine neue Generation rechter Nachwuchsfiguren im Ruhrgebiet. Sie ist kein Ausreißer, sondern die logische Fortsetzung einer Entwicklung, in der die extreme Rechte ihr Image modernisiert, ohne ihren Inhalt zu verändern. Während die alten verbrauchten Kader Infrastruktur, Räume und ideologische Linien liefern, übernehmen Figuren wie Steinicke die Aufgabe, diese Strukturen algorithmustauglich zu verpacken: in Selfies, in TikTok-Formaten, in halb misslungenen, halb harmlos wirkenden Postings. Die Gefahr liegt gerade in dieser Mischung: Steinicke wirkt nicht wie die klassische Neonazistin, sondern wie eine 17-Jährige, die zwischen Schule, Starbucks und Heimatabend pendelt. Ihre Inszenierung macht die extreme Rechte anschlussfähig für Jugendliche, die keinen Fuß in einen Kameradschaftskeller setzen würden, aber durchaus einem Instagram-Profil folgen, das aussieht wie jedes andere, nur mit „Heimat“-Überdosis.

Ob Steinicke der Szene langfristig erhalten bleibt oder irgendwann aussteigt, lässt sich nicht absehen. Langjährigen Beobachter*innen der Szene ist jedoch klar, dass es für Steinicke nur zwei Lebensperspektiven geben kann: baldiger Ausstieg oder ein gescheiterter Lebenslauf. Klar ist jedoch: Solange Strukturen wie die Heimatjugend bewusst auf junge Frauen als Aushängeschilder setzen, wird die Szene nicht „harmloser“, sondern schwerer zu erkennen. Unter Softfiltern, Gelatine-Witzen und wackeligen Videostatements bleibt die Ideologie dieselbe – nur ihre Verpackung ist neu.

RechercheBO
21.11.2025