Am 15. Januar veröffentlichten wir hier die schockierende Recherche von 30 Toden, die bei Polizeieinsätzen im Jahr 2022 stattfanden. Leider müssen wir nun, zwei Monate später, am Internationalen Tag gegen Polizeigewalt, diese Recherche ergänzen. Wir müssen ganze sechs weitere Fälle hinzufügen.
Warum haben wir diese Fälle bei unserer ersten Recherche nicht finden können?
Eine spannende Frage, denn daran zeigt sich noch eindeutiger als zuvor, dass die Polizei keine Aufklärung und Öffentlichkeit zu diesen Fällen herstellt. Zu finden waren diese Todesfälle (bis auf teilweise den Pforzheimer Fall) nicht in einsehbaren Presseberichten der Polizei oder anderen Medien, sondern nur auf explizite Nachfrage bei den Behörden. Nach Jahresende wurde folgende Anfrage an alle Innenminsterien der Bundesländer und den Bund gestellt:
„Bitte geben Sie uns eine vollständige Liste mit allen Fällen bei denen ein oder mehrere Menschen im Zusammenhang mit einem Polizeieinsatz direkt oder an den Folgen im Jahr 2022 gestorben sind. Bitte nennen Sie Ort und Datum des Vorfalls. Außerdem ob Ermittlungen gegen Polizeibeamt*innen eingeleitet wurden und was der Verfahrensstand ist.”
Nur zu zwei der sechs Fällen gibt es eine polizeiliche Pressemitteilung, in Pforzheim und Herford. In Herford sind die Angaben dabei sehr ungenau und die Information, dass die Person später an den Folgen des Polizeieinsatzes verstarb, geht nicht aus der Mitteilung hervor.
Ganz konkret ergeben sich nach diesen Ergänzungen für uns folgende Fragen:
Was passierte in Düren und Ravensburg und warum wurde nicht über diese Fälle berichtet? Wurden sie bewusst verschwiegen? Warum gab es im Kreis Düren und im Rhein-Kreis-Neuss keine Ermittlungsverfahren?
Warum schließt die Polizei ihr eigenes Fehlverhalten in Diez kategorisch aus, wenn eine konkrete Todesursache nicht benannt werden konnte? Warum ist ein Tod eines Menschen in Polizeigewahrsam den Polizeibehörden nicht einmal eine Meldung wert? Dies erinnert sehr stark an den Fall von Giorgos Zantiotis. Er starb auch in Polizeigewahrsam und erst nach öffentlichem Druck, gaben die Behörden Stück für Stück Informationen preis.
Der Umstand, dass die Fälle der Polizei offenbar bekannt sind, aber nicht einmal in den öffentlichen Presseportalen eine Berichterstattung wert waren, zeigt zwei Dinge: Es gibt Tode bei Polizeieinsätzen, von denen die Polizei offensichtlich jede Aufmerksamkeit systematisch ablenken möchte. Und zweitens kann nun ganz eindeutig nicht mehr ausgeschlossen werden, dass es noch viele weitere solcher Fälle gibt, über welche keine Pressemitteilungen gemacht wurden. Vom Bund und den Bundesländern Berlin, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachen und Sachsen gibt es beispielsweise keine Rückmeldung. Wie hoch ist die Dunkelziffer der Todesfälle?
Außerdem wurden laut den Behörden nur 21 Tode bei Polizeieinsätzen 2022 aufgelistet. Das zeigt, dass die (eigene) Rolle der Polizei in diesen Fällen meist gar nicht als aktiver Einfluss auf den Tod wahrgenommen wird, was die Antworten der Behörden noch unzuverlässiger macht. Dem gegenüber steht unsere Recherche von mittlerweile schon 36 Fälle von Toden bei Polizeieinsätzen in 2022 – und zeigt eine große Lücke auf.
Auch scheinen die Behörden manchmal selbst nicht zu wissen, was sie wissen, oder sie antworten wie es ihnen gerade recht ist. So wird in diesem Zeitungsartikel (https://zeit.de/gesellschaft/2023-02/polizeigewalt-tote-einsatz-debatte ; hinter einer Paywall), darauf verwiesen, dass die Behörden aus Baden-Württemberg keine Zahlen nannte – in der Anfrage von FragdenStaat wurden allerdings von vier Fällen in Baden-Württemberg berichtet.
Noch stärker als vorher ist uns bei dieser Recherche klar geworden: wir können den Aussagen der staatlichen Behörden aktuell nicht trauen – weder in ihrer Berichterstattung, noch auf Nachfrage. Ein komplettes Bild der Lage gibt es nicht.
Zur Vollständigkeit der Auflistung, und um die einzelnen Fälle in ihrer Komplexität zu betonen, haben wir in diesem Beitrag noch einmal alle 36 uns bekannten Fälle aufgelistet. Nur die sechs neu bekannt gewordenen Fälle sind im weiteren Detail beschrieben, während die Beschreibungen und Quellenangaben zu den übrigen Fällen in unserem ersten Beitrag zu finden sind.
Alle Fälle tödlicher Polizeieinsätze
2021-12-16* Nordrhein-Westfalen, Rhein-Kreis-Neuss, Name unbekannt
Eine namentliche unbekannte Person ist an einem unbekannten Tag im Jahr 2022 an den Folgen eines Polizeieinsatzes am 16.12.21 im Rhein-Kreis-Neuss verstorben. Der genaue Todestag ist nicht bekannt. Genauso wenig irgendwelche Informationen zu dem Einsatz. Es wurde kein Ermittlungsverfahren gegen die Beamt*innen eingeleitet.
Disclaimer: Es gibt keine unabhängigen Informationen zu diesem Fall, außer die Aussagen der Behörden selbst.
*Das Datum ist das Einsatzdatum. Der Todeszeitpunkt ist in 2022, aber nicht genauer bekannt.
Quelle(n):
– FragdenStaat
2021-12-26* Nordrhein-Westfalen, Kreis Herford, Name unbekannt
Am 26.12.21 gab es einen versuchten Femizid im Kreis Herford und einen Toten durch den ausgelösten Polizeieinsatz. Ein Mann hat eine Frau in einer Wohnung mit einer Stichwaffe verletzt. Als die Polizei eintraf, soll er mit einer Schusswaffe auf die Beamt*innen gezielt haben. Durch Schüsse der Beamt*innen schwerverletzt kam er ins Krankenhaus, wo er an einem unbekannten Tag im Jahr 2022 verstarb. Die verletzte Frau kam ebenfalls ins Krankenhaus. Es wurde kein Ermittlungsverfahren gegen die Beamt*innen eingeleitet.
Disclaimer: Es gibt keine unabhängigen Informationen zu diesem Fall, außer die Aussagen der Behörden selbst.
*Das Datum ist das Einsatzdatum. Der Todeszeitpunkt ist in 2022, aber nicht genauer bekannt.
Quelle(n):
– FragdenStaat
– PM der Polizei
2022-01-04 Thüringen, Jena, Name unbekannt
2022-01-06 Nordrhein-Westfalen, Bonn Name unbekannt
2022-02-01 Hessen, Gemünden, Name unbekannt
2022-02-09 Hamburg Name unbekannt
2022-02-24 Bayern, Gunzenhausen Name unbekannt
2022-02-25 Thüringen, Schmölln Name unbekannt
2022-03-03, Rheinland-Pfalz, Diez, Name unbekannt
Eine namentliche unbekannte Person ist am 03.03.22 in Diez in Polizeigewahrsam verstorben. Laut Behörde konnte durch eine Obduktion die konkrete Todesursache nicht festgestellt werden. Die Polizei schließt ein Fehlverhalten der Beamt*innen aus.
Disclaimer: Es gibt keine unabhängigen Informationen zu diesem Fall, außer die Aussagen der Behörden selbst.
Quelle(n):
– FragdenStaat
2022-03-20 Bayern, Grünthal Daniel Scherschin
2022-04-07 Nordrhein-Westfalen, Bochum Name unbekannt
2022-04-08 Bayern, München, Name unbekannt
2022-04-12 Nordrhein-Westfalen, Neukirchen-Vluyn Name unbekannt
2022-04-27 Berlin Marcel K.
2022-05-02 Hessen, Offenbach Name unbekannt
2022-05-02 Baden-Württemberg, Mannheim A. P.
2022-05-04 Baden-Württemberg, Pforzheim, Name unbekannt
Ein 46-jähriger Mannes ist am 04.05.2022 in seiner Wohnung in Pforzheim verstorben. Im laufe des Tages, wurde der Mann wegen eines Treppensturzes in einem Pforzheimer Krankenhaus behandelt und entließ sich anschließend selbst. Seine Lebensgefährtin vermutete jedoch, dass nicht der Treppensturz ursächlich für den Tod des Mannes war, sondern ein vier Tage zuvor stattgefundener Polizeieinsatz. Bei diesem soll der Mann einer Aufforderung der Polizei das Revier zu verlassen nicht nachgekommen sein. Daraufhin schoben die Beamt*innen den Mann unter Anwendung unmittelbaren Zwanges aus dem Revier, wobei dieser stürtze. Aufgrund der unklaren Sachlage zum Tod des Mannes wurde eine Obduktion angeordnet, zu dessen Ergebnis keine weiteren Informationen gefunden werden konnten.
Disclaimer: Es gibt keine unabhängigen Informationen zu diesem Fall, außer die Aussagen der Behörden selbst.
Quelle(n):
– FragdenStaat
– PM der Polizei
2022-05-10 Baden-Württemberg Name unbekannt
2022-07-04 Sachsen-Anhalt, Weißenfels, Name unbekannt
2022-07-05 Baden-Württemberg, Ravensburg, Name unbekannt
Eine namentliche unbekannte Person ist am 07.05.22 in Ravensburg an den Folgen eines Polizeieinsatzes verstorben. Es sind keine Informationen zu dem Einsatz bekannt. Es wurden Ermittlungen gegen Beamt*innen eingeleitet, aber diese sind noch nicht abgeschlossen.
Disclaimer: Es gibt keine unabhängigen Informationen zu diesem Fall, außer die Aussagen der Behörden selbst.
Quelle(n):
– FragdenStaat
– PM der Polizei
2022-08-02 Hessen, Frankfurt Amin F.
2022-08-03 Nordrhein-Westfalen, Köln Jozef Berditchevski
2022-08-07 Nordrhein-Westfalen, Oerkenschwick/Recklinghausen Name unbekannt
2022-08-08 Nordrhein-Westfalen, Dortmund Mouhamed Lamine Dramé
2022-08-21 Nordrhein-Westfalen, Kreis Düren, Name unbekannt
Eine namentliche unbekannte Person ist am 21.08.22 im Kreis Düren an den Folgen eines Polizeieinsatzes verstorben. Es sind keine Informationen zu dem Einsatz bekannt. Es wurde kein Ermittlungsverfahren gegen die Beamt*innen eingeleitet.
Disclaimer: Es gibt keine unabhängigen Informationen zu diesem Fall, außer die Aussagen der Behörden selbst.
Quelle(n):
– FragdenStaat
2022-09-04 Berlin Name unbekannt
2022-09-04 Nordrhein-Westfalen, Mönchengladbach Name unbekannt
2022-09-07 Sachsen, Leipzig Name unbekannt
2022-09-08 Bayern, Ansbach Name unbekannt
2022-10-06 Berlin Kupa Ilunga Medard Mutombo
2022-10-19 Nordrhein-Westfalen, Dortmund Name unbekannt
2022-10-24 Nordrhein-Westfalen, Zülpich-Linzenich Timo R.
2022-11-17 Nordrhein-Westfalen, Enger, Hikmet T.
2022-11-18 Hessen, Using Name unbekannt
2022-12-10 Sachsen, Dresden David W.
2022-12-15 Hessen, Hattersheim Name unbekannt
Als zusätzliche Quellen, alle beantworteten Rückmeldungen der Behörden:
- Baden-Württemberg
- Bayern
- Brandeburg
- Bremen
- Hamburg
- Nordrhein-Westfalen
- Rheinland-Pfalz
- Saarland
- Sachsen-Anhalt
- Schleswig-Holstein
- Thüringen
Wir kennen nicht alle Namen. Wir kennen leider auch nicht alle Positionen der Angehörigen. Falls es von Angehörigen, sei es Familie, Freund*innen oder Bekannten, an einer unserer Darstellungen Anmerkungen oder Kritik gibt, kontaktiert uns gerne unter:
initiative_topa [ät] riseup [dot] net
Dies gilt ebenfalls für das Ergänzen, Korrigieren und Öffentlichmachen von weiteren Informationen (z.B. Namen, Personeninformationen, Infos oder eure offenen Fragen zur Tat). Auch darüber hinaus sind wir für Kritik und Anmerkungen (z.B. zur Sprache, Listung) offen, gerade da uns die Sensibilität und Schwere des Themas bewusst ist.